Interview mit der Illustratorin
Silvia Baccanti
Silvia Baccanti, Jahrgang 1995, ist im Herzen der Dolomiten als Tochter einer Gadertaler Mutter und eines genuesischen Vaters aufgewachsen. Die Berge und das Zeichnen begleiten sie von Kindheit. Die Verbundenheit zu ihrer Heimat ist groß, und da sie in Bologna an der Akademie der Schönen Künste Accademia di Belle Arti und in Urbino an der Fachhochschule für künstlerische Berufe ISIA studiert hat, hat sie selbst die Erfahrung gemacht, dass es manchmal gerade diese Entfernung ist, die hilft, die eigenen Ursprünge besser zu verstehen. Jetzt lebt Silvia wieder in Alta Badia und arbeitet dort als Illustratorin mit verschiedenen Organisationen und Kultureinrichtungen zusammen – unter anderem mit dem Ladinischen Kulturinstitut Micurà de Rü. Ein Auszug ihres Comics Sëdes über die Geschichte der Südtiroler Option wurde in der Wochenzeitschrift Internazionale veröffentlicht.
„Often drawing, mostly in the mountains” – so stellen Sie sich in den sozialen Medien vor. Wie ist Ihr Interesse für die Welt des Zeichnens gewachsen?
Seit meiner Kindheit war das Zeichnen immer meine Lieblingsbeschäftigung. Ich verdanke viel meiner Tante Meme, einer Kunstlehrerin, die diese Neigung gefördert hat, indem sie mich nicht nur sehr früh mit der Kunstgeschichte in Berührung gebracht hat, sondern mir auch die ersten Zeichenwerkzeuge in die Hand gab. Ich erinnere mich an Nachmittage, an denen ich mit geschlossenen Augen zum Rhythmus der Musik gezeichnet oder ganze Galaxien mit Planeten, Pflanzen und Bewohner*innen entworfen habe. Und natürlich danke ich auch meinen Eltern, die meinem Wunsch nach neuen Comicbüchern immer nachgekommen sind.
Sie sind in Alta Badia, einem ladinischen Tal in Südtirol geboren, Ihre Mutter stammt aus Corvara, Ihr Vater aus Genua: Was bedeutet es für Sie, mit zwei Kulturen und zwei Sprachen unter demselben Dach aufzuwachsen?
Da ich in einem Grenzgebiet geboren und aufgewachsen bin, ist es mir immer leicht gefallen, mich zwischen scheinbar weit voneinander entfernten Kulturkreisen zu bewegen – getrennt durch Berge, die ich mir aber lieber als Reißverschluss denn als Mauern vorstelle. In meiner Umgebung waren die Berge immer da, und ich habe nie gedacht, dass die Unterschiede zwischen meinen Eltern mich weniger Ladinisch machen als mein Umfeld. Der einzige Unterschied ist vielleicht die Tatsache, dass ich erst relativ spät angefangen habe, Ladinisch zu sprechen, da wir zuhause mehr Italienisch gesprochen haben, immer durchmischt mit ladinischen Ausdrücken. Ich bin sicherlich unter einem Dach groß geworden, wo es mehrere Einflüsse, viele verschiedene Ideen und zahlreiche Bücher gab, aber das war nie zum Nachteil der ladinischen Kultur.
Gibt es eine Möglichkeit, auf eine andere Art und Weise tief mit der Heimat verbunden zu sein, fernab von den Stereotypen, welche Berggebieten allzu oft zugeschrieben wird?
Ich denke, jeder Mensch ist auf ganz individuelle Weise mit seinem Territorium verbunden; dann sind es die kleinen Dinge, Gesten und Rituale, welche die Bevölkerung an ihre Heimat binden, und das gilt für jeden Breiten- und Längengrad. Dann gibt es meiner Meinung nach einen Unterschied zwischen der Pflege und Verinnerlichung der kulturellen Identität und der Folklore, die zu einem Spektakel für den Tourismus gemacht wird, also für andere und nicht für sich selbst. Ich bezeichne mich selbst als Ladinerin, auch wenn ich, vielleicht aus mangelndem Interesse, nie an Umzügen in traditioneller Kleidung teilgenommen habe. Ich habe mich jedoch bewusst dafür entschieden, im Tal zu bleiben, so wie ich mich auch dafür entschieden habe, viel mehr Ladinisch zu sprechen als früher.
Die Berge sind auch wiederkehrende Themen in Ihren Illustrationen. Welche Beziehung haben Sie zu ihnen?
Meine Beziehung zu den Bergen ist kontinuierlich: Sie sind mein Lebensraum, dessen Erhalt mir sehr am Herzen liegt, und nicht nur etwas, das ich rein für mein Wohlbefinden beanspruche, etwa beim Spazierengehen oder Klettern. Natürlich unternehme ich auch gerne andere Dinge, aber die Berge geben mir jeden Tag die Gelegenheit, sie mit neuem Blick zu betrachten. Als ich weit weg von zu Hause war, spürte ich mehr und mehr das Verlangen, bestimmte Aspekte meiner Heimat wiederzuentdecken, beispielsweise die Sagen und Bräuche, oder auch ganz einfach die Schönheit bestimmter Landstücke.
Auch glaube ich, dass das so genannte Hochland, anthropologisch und naturwissenschaftlich gesehen, so wissens- und geschichtsträchtig wie fragil ist. Berge sind kein unbewegliches, unveränderliches Naturelement: Zuzusehen, wie meine Landschaft unter dem Klimawandel und dem menschlichen Handeln leidet, hat den Wunsch nach Wiederentdeckung und Widerstand genährt. Ich werde vielleicht nicht viel bewirken, aber ich kann die Berge durch meine Arbeit sprechen lassen.
Im Deutschen gibt es das Wort Heimweh. Haben Sie auch darunter gelitten, als Sie nicht in Ihrem Tal waren?
Ich habe mich in meiner Arbeit viel mit den Begriffen Heimat und Heimweh beschäftigt, mich dann aber immer an jenen Orten, an denen ich gelebt habe, zuhause gefühlt. Bei jedem Umzug war ich immer auch ein bisschen wehmütig, als wäre es der erste. Absurderweise war Alta Badia nach so vielen Jahren in der Fremde der Ort, an dem es mir am Schwersten gefallen ist, mich wieder einzuleben. Aber ich verspürte extrem starkes Heimweh nach den Bergen und wollte mich von ganzem Herzen wieder hier zuhause fühlen.
Wir sprechen oft von „Brain Drain“, aber Sie haben außerhalb der Region studiert und sind dann mit einem reicheren Fundus an Wissen und Erfahrung zurückgekehrt. Metaphorisch gesprochen: ernten, um dann im eigenen Tal zu säen und zu wachsen.
Wie viele meiner Altersgenoss*innen fühlte ich mich nach Studienabschluss ein wenig verloren und habe daher beschlossen, vorübergehend nach Hause zurückzukehren und den nächsten Schritt zu planen. Der nächste Schritt bestand schließlich darin, im Tal zu bleiben, und ich muss zugeben, es macht mir mehr Spaß, als erwartet. Ich hätte es nie für möglich gehalten, hier im Tal kreativ arbeiten zu können, musste meine Meinung allerdings revidieren und Vorurteile beiseitelegen. Seit meiner Rückkehr überrascht mich das große Potenzial, was das kulturelle Leben in Alta Badia betrifft, nicht nur für Tourist*innen, sondern auch von Ladiner*innen für Ladiner*innen und Südtiroler*innen überhaupt. Im Vergleich zu meiner Jugendzeit gibt es heute viel mehr Impulse und interessante Initiativen von unten für junge Menschen. Das gefällt mir sehr gut und dazu möchte auch ich einen Beitrag leisten.
Erzählen Sie uns von Sëdes, dem Comic über die Geschichte Südtirols, den Sie für Ihre Masterarbeit an der ISIA in Urbino gestaltet haben ...
Sëdes ist ein Comic, der von einigen bedeutsamen Ereignissen der jüngeren Geschichte Südtirols erzählt, wie den Anschluss an Italien nach dem Ersten Weltkrieg und die damit verbundene Zwangsitalienisierung, aber auch die Option, als alle nicht italienischsprachigen Einwohner*innen vor die Wahl gestellt wurden, auszuwandern und ihre kulturelle Identität zu bewahren oder zu bleiben und sich gänzlich von der deutschen Sprache und Kultur loszusagen. Diese Ereignisse sind außerhalb der Region kaum bekannt, aber sie prägten einen langen Abschnitt der Geschichte, der in unserem Land viele Narben hinterlassen hat. Geschichten wie diese haben ein großes erzählerisches Potenzial, mit meinem Comic habe ich nur an der Oberfläche gekratzt: Themen wie Identität, Bindung und Zugehörigkeitsgefühl sind komplex, vielleicht gibt es keine allumfassende Antwort darauf.
Welche Pläne haben Sie für die nahe Zukunft?
Heuer konnte ich mit einigen lokalen Organisationen zusammenarbeiten und ich würde meinen Arbeitshorizont gerne noch mehr hier im Tal erweitern. Ich arbeite mit dem Ladinischen Kulturinstitut Istitut Ladin Micurá de Rü in San Martin de Tor zusammen, sowie mit dem Verein ARCI Diverkstatt in Bruneck bei der Nachmittagsbetreuung für Kinder und habe unter anderem eine Zusammenarbeit mit Alta Badia Brand. Seit Oktober studiere ich wieder in Teilzeit in Bologna und absolviere einen Atelierista-Kurs: Ich möchte auch vermehrt mit Kindern arbeiten und Aktivitäten und Workshops organisieren.
Letzte Frage: Was wünschen Sie sich für Ihr Tal?
Es mag vielleicht zynisch klingen, aber wenn ich darüber nachdenke, was durch den Klimawandel weltweit passiert, wünsche ich mir, dass mein Tal weiter besteht. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich von Borkenkäfern graue Bäume, durch Wassermassen verursachte Erdrutsche, im Stau stehende Autos. Meinen wunderschönen, aber auch fragilen Bergen wünsche ich, trotz allem fortzubestehen.
Claudia Gelati, Absolventin der Fakultät für Design und Künste an der Freien Universität Bozen, ist Designerin mit interdisziplinärer Ausrichtung. Unter anderem hat sie an der Publikation über hundert Jahre Designgeschichte in Südtirol, Tirol und dem Trentino „Design from Alps 1920–2020“ mitgearbeitet. Sie schreibt auf franzmagazine.com über Design, bildende Kunst, Musik und Bücher.