La stüa, Herz des Hauses
Die Stube im Gadertal
Die Stube, auf Ladinisch stüa, war einst der einzige beheizte Raum, vollständig mit Holz ausgekleidet, und über Jahrhunderte hinweg Mittelpunkt des alltäglichen Familienlebens. Auf fast allen Höfen gibt es eine, die Stube ist ein geschichtshaltiger Ort – von großer Bedeutung für jede Bauernfamilie im Gadertal und auch andernorts. Sie ist das Herz des Hauses, ein Raum, der Vertrautheit und Wärme ausstrahlt, voller Erinnerungen. Sobald man die Stubenschwelle überschreitet, hat man das Gefühl, eine andere Welt zu betreten: Das alte Holz, der Geruch nach Rauch und die Zeichen harter Arbeit erzählen von einer entbehrungsreichen Lebensart, die im Wesentlichen über die Jahrhunderte hinweg unverändert geblieben ist – und dieser Umstand ermöglicht es uns, in all seiner Schlichtheit in eine enorme kulturelle und soziale Vielfalt einzutauchen. Im Folgenden möchte ich die Möglichkeit geben, diese Umgebung näher kennenzulernen und ihre Schönheit in all ihren Facetten zu erfassen.
Im Mittelalter bezeichnet Stube einen Raum für die Familie, für Versammlungen und zum Baden – kennzeichnend war das Vorhandensein eines Ofens. Über einen ebensolchen, der von außen gespeist wurde, verfügte die oberdeutsche Stube, damit es im Raum nicht zu Rauchentwicklung kam – eine wegweisende bauliche Innovation. Stuben entwickelten sich vor allem im adligen und bürgerlichen Kontext des deutschsprachigen Raums, wie auch eine urkundliche Erwähnung aus dem 12. Jahrhundert in Südtirol bezeugt. Die ersten Stuben waren aus massivem Holz und hatten leicht gewölbte Decken, beeinflusst von den gemauerten Gewölben. Mit der Zeit wurden sie größer und die Verzierungen aufwändiger. In den Bauernhäusern sind Stuben ab dem 15. Jahrhundert nachzuweisen und traten in den Mittelpunkt des häuslichen Lebens. Die Merkmale variierten je nach Gesellschaftsschicht, blieben jedoch in ihrer Funktion ähnlich. Erst nach 1519, mit der Loslösung des Adels von der Arbeiterklasse, wurden die Unterschiede deutlicher. Mit Beginn der Renaissance begannen sich die Stuben zu verändern: Decken und Verzierungen wurden modernisiert, aber in vielen Bauernhäusern blieb die Tradition erhalten. Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert begannen die Adligen, Stuckdecken zu bevorzugen, während Bauersleute weiterhin traditionelle Räume bevorzugten und diese mit persönlichen Elementen bereicherten. Dank Malern aus der Umgebung – häufig aus dem Fassatal, entwickelte sich im 19. Jahrhundert die dekorative Kunst. Mit Aufkommen des Tourismus entdeckten auch Gasthäuser die getäfelte Stube für sich und ließen sie in ähnlichem Stil nachbauen, und auch der Antiquitätenhandel plünderte so manches Haus.
Lasst uns also in diesen Raum treten und genauer hinsehen, um die typischen, charakterisierenden Elemente aufzuspüren: Wesentlich ist der gemauerte Ofen, halbrund oder kegelförmig, zum Heizen und auch als soziales Element. Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge war die Ofenbank mit hölzernem Kopfteil dem Bauer vorbehalten, niemand machte ihm den Platz streitig. Die Kinder saßen auf der Ofenbrücke über dem Ofen oder auf der Bank dahinter. Der Raum wurde jedoch nicht zum Schlafen genutzt, nur Kranke oder Reisende übernachteten hier. Mit Ende des Mittelalters wurden die Öfen mit Kacheln verziert, während die bäuerlichen Öfen einfach blieben.
Die Möbel waren in den Stuben unerlässlich und gut gewählt: ein paar wenige Bänke, entweder hängende oder in das Getäfel eingelassene Wandkästchen für Gebetsbücher und Gefäße mit verschiedenen Ölen und Kräutertinkturen. Ein weiteres wesentliches Element war der Tisch – meist in der dem Ofen gegenüberliegenden Ecke, umgeben von Bänken und Stühlen. Er war für die Familie der Mittelpunkt des Hauses. Hier versammelte man sich zu den verschiedenen Mahlzeiten aus Zutaten von den eigenen Feldern. Aus derselben Pfanne zu essen, half nicht nur Geld zu sparen, sondern förderte auch den Zusammenhalt der Familie. Vor den Mahlzeiten war es üblich, das Vaterunser zu beten, als Zeichen der Dankbarkeit und Besinnung.
Die Fenster in den stües waren klein, um Wärmeverlust zu vermeiden, und es schien nur wenig Licht hinein. Erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts etablierte sich die elektrische Glühbirne und löste Lichtquellen wie Petroleumlampen oder Talg- und Wachslichter ab. In der Regel befand sich in jeder stüa eine Pendeluhr mit Uhrkasten im Stil der Stube zum Schutz des Uhrwerks, des Pendels und der Gewichte. Bei einem Todesfall in der Familie wurde die Stubenuhr angehalten.
Die Stube war auch ein Arbeitsraum zum Flicken, Stricken und Anfertigen von Gegenständen. Sie war Lernort für Kinder, und wenn Wanderhandwerker vorbeikamen, wurden während der Arbeit fleißig Neuigkeiten ausgetauscht. Die Tage, an denen in der stüa Brot gebacken wurde, waren geprägt von emsigen Vorbereitungen: Der Raum wurde stark beheizt und der Teig mühsam vermengt und geknetet. Selbstgebackenes Brot war ein Grundnahrungsmittel der Bauersleute, dessen Zubereitung begleitet von Ritualen, wie beispielsweise auch Gebeten zu Schutzheiligen. Brotbacken war nicht nur eine lebensnotwendige Angelegenheit, sondern ein die gesamte Familie einigendes, wertvolles Ereignis.
Die stüa war der Ort, an dem sich die Familie abends versammelte, um sich zu unterhalten, gemeinsam zu singen und sich Geschichten zu erzählen, und trug sich somit wesentlich zur Volkskultur bei. Auch religiöse Feiern und Rituale wurden hier abgehalten. Am hauseigenen Kruzifix und Altar, flankiert von Heiligen- und Sterbebildchen, gesegneten Gegenständen und Familienfotos, versammelte sich die Familie dreimal am Tag zum Gebet. An Festtagen wurde der Herrgottswinkel mit von Hand bestickten Altartüchern als Symbole der Verehrung und Fürsorge besonders geschmückt. Besonders in der Adventszeit verwandelte sich die Stube durch Traditionen wie das Aufstellen der Krippe in einen bedeutsamen Raum und zeugte von der großen Spiritualität und der Wichtigkeit der Familie. Der Brauch, zu Allerheiligen den Seelen der Verstorbenen Essen aufzubereiten, verweist auf die tiefe Verbundenheit zwischen Lebenden und Toten. All diese Rituale spiegelten nicht nur die tiefe Religiosität der Gemeinschaft wider, sondern dienten auch der Weitergabe von Werten und Traditionen von Generation zu Generation.
Im Lauf der Zeit enthielt dieser Raum mehr und mehr religiöse Elemente, wie das Kruzifix im Herrgottswinkel. Die katholische Reform im 17. und 18. Jahrhundert förderte die Volksfrömmigkeit und man begann, vor und nach den Mahlzeiten zu beten. Die Kruzifixe wurden kleiner, die Wände mit Wallfahrtsandenken und Heiligenbildchen geziert, diese heilige Ecke hinter dem Stubentisch wurde zu einem Ort der Andacht und des Gedenkens. Einst standen in der stüa auch Wiegen und Särge – Symbole für den Anfang und das Ende des Lebens. Am Eingang, gleich neben der Stubentür hing ein Weihwasserkrüglein für den göttlichen Segen.
So formt die Stube einen Mikrokosmos – geprägt von den Erfahrungen, Anstrengungen und Freuden des Alltags. Die Holztäfelung, bestückt mit bedeutungsvollen Gegenständen und religiösen Symbolen, erzählen Geschichten von Nächstenliebe und Leidenschaft. Jeder Winkel hier zeugt von einer lebendigen Vergangenheit, in der Arbeit und zwischenmenschliche Beziehungen in einem faszinierenden Geflecht aus Geschichte und Kultur eng miteinander verwoben sind.
Die stüa hat sich über die Jahrhunderte tiefgreifend verändert: Der Bank wird nunmehr das Sofa vorgezogen, neben dem Hausaltar steht oftmals der Fernseher, doch der Charme dieses Ortes bleibt unverändert mit seiner einzigartigen, unnachahmlichen Atmosphäre von Ruhe und Gemütlichkeit. Die Wände des zur Gänze mit Holz ausgekleideten Raums bewahren die Geschichte vergangener Generationen: Schnitzereien, Bemalungen und Inschriften erzählen vom Leben der Bewohner*innen, jedes Möbel, von den Bänken bis zum Ofen, von Sitten und Bräuchen einer Gemeinschaft. Die Stube war der einzige beheizte Ort im Haus, in dem sich in den langen Wintern die ganze Familie zum Essen, Arbeiten und Ausruhen versammelte.
Zusammenfassend kann die stüa nicht nur als Wohnraum bezeichnet werden, sie ist auch ein Symbol für kulturelle Identität und Gemeinschaft. Sie steht für die Verschmelzung von Tradition, Familie und Spiritualität, die Stube ist ein Ort, an dem die Vergangenheit in der Gegenwart weiterlebt und jedes Detail die Geschichte eines einfachen, aber gehaltvollen Lebens erzählt, nämlich das der Bauernfamilien im Gadertal. Stüa bedeutet Familie, sie ist das Herz des Bauernhauses und spielt auch heute noch in Momenten der Freude und Trauer eine zentrale Rolle. Die stüa verkörpert die Geschichte und Kultur, die Generationen in ihr gelebt haben.
Katharina Moling hat an der Universität in Padua DAMS Kunst, Musik und Darstellende Kunst studiert und an der Universität Wien einen Master in Kunstgeschichte abgeschlossen. Sie ist seit 2022 Direktorin des Museum Ladin Ciastel de Tor und des Museum Ladin Ursus Ladinicus. Als unabhängige Kuratorin hat sie Ausstellungen und interkulturelle Projekte konzipiert und kuratiert. Sie lebt in La Val und ihr Hauptinteresse gilt der Erhaltung und Weitergabe der kulturellen und künstlerischen Vielfalt in den ladinischen Tälern.