Ladiniens Ursprungssagen
Von den Murmeltieren und dem Volk der Fanes
Die Hochfläche der Fanes-Alpe, im Dreieck zwischen dem oberen Gadertal, Enneberg und den Bergzügen von Cortina d’Ampezzo, ist eine öde Steinwüste von seltsamem Reiz und herber Schönheit. Weit schweift der Blick über schroffe Felsplatten und schier unendliche Geröllströme, kaum ein grünes Kraut wächst aus dem bleichen Boden, staubtrocken dehnt sich die Mondlandschaft bis zum Horizont. Auf der Hochfläche des Sellastockes sieht es ähnlich aus, und auch über das Gebiet der Gardenaccia pfeift der Wind ohne Unterlass.
Die Menschen im Tal, bis vor nicht allzu langer Zeit einfache Bauern, mieden diese unwirtlichen Höhen, sie galten als unheimlich. Zwar nutzte man die Almen, soweit sie Wiese und Weide boten, ein paar kühne Jäger stiegen dem Gamswild bis in die Felsen nach, und auf der Suche nach einem abgängigen Schaf traute sich wohl oder übel ein Hirtenjunge in die finsteren Schluchten längs der Abhänge. Von Hexen und Unholden erzählte man sich, dämonischen Berggeistern und unguten Wilden, den Salváns, die in den Bergwäldern hausten und mit denen man besser nicht zusammentraf. Ähnliche Geschichten erzählte man sich auch im angrenzenden Pustertal und überhaupt in ganz Tirol. Da sprachen die Leute zwar eine andere Sprache, Deutsch oder weiter im Süden Italienisch, aber vor Hexen gefürchtet haben sich alle.
Die alte Grafschaft Tirol (heute Euregio Nordtirol-Südtirol-Trentino) ist uraltes Siedlungsgebiet: Hier kreuzten sich im Herzen Europas seit je die Wege von Nord nach Süd und von Ost nach West, das Passland in den Zentralalpen war stets eine Völkermühle par excellence, umkämpft von allen großen Mächten, denen die Alpen bei ihren Feldzügen im Weg standen, allen voran den Legionen des antiken Roms, die um 15 v. Chr. das gesamte Gebiet kurzerhand in ihr Weltreich eingliederten. Nach dem Zerfall Westroms (476 n. Chr.) und den turbulenten Zeiten der germanischen Völkerwanderung – l’invasione dei barbari sagen dazu die südlichen Nachbarn, die sich der anbrandenden Horden erwehren mussten – entwickelte sich im 12. Jahrhundert ein frühes souveränes Staatsgebilde, das im Jahr 1363 zwar im aufstrebenden Habsburgerreich aufging, als Kronland aber stets ein hohes Maß an Selbstverwaltung und Eigenverantwortung behielt.
Das kleine Land lebte ruhig dahin. Die alpine Landwirtschaft samt ausgedehntem Holzhandel und etwas Erzabbau versorgte die Bevölkerung in den Haupttälern, Tirols Silberwährung war stabil und schließlich arrangierte man sich sogar mit dem Erzfeind, der mächtigen Seerepublik Venedig, wenn der Tiroler Adler und der geflügelte Markuslöwe sich auch nie sonderlich grün waren.
Dann kamen mit der beginnenden Industrialisierung die großen Umbrüche: Das agrarisch geprägte, erzkonservative Tirol kam mit den Neuerungen nur schwer zurecht, dazu geriet die soziale Ordnung aus den Fugen, die alten überkommenen Traditionen schienen nicht mehr zu gelten. Durch die Haupttäler dampfte bereits die Eisenbahn, während die meisten Nebentäler nur über kümmerliche Saumwege erreichbar waren. Die ersten Pioniere des Alpintourismus verdross das nicht; auch in den bisher gottverlassenen Nestern der hintersten Hochtäler tauchten plötzlich fremde Gäste auf, die sich für die hohen Gipfel interessierten. Anfänglich müssen die Einheimischen entgeistert geguckt haben und konnten mit der seltsamen Sucht der Bergsteigerei wohl nicht viel anfangen; der Bergsport entstand nicht in den Bergdörfern, sondern in den fernen Städten Europas, als die Romantik die Wahrnehmung der Natur völlig veränderte und den Begriff der Landschaft entdeckte.
In den Jahren 1861–1864 durchstreiften zwei englische Weltenbummler das Gebiet der Dolomite Mountains und fanden oft genug weder einen kundigen Führer auf die meist namenlosen Berggipfel, noch einen einheimischen Kenner der Wege über die Jöcher der Felswildnis. Ihre Reisebeschreibungen – J. Gilbert/G.C. Churchill, The Dolomite Mountains, London, 1864 – wurden ein wahrer Welt-Bestseller und machten das bis dahin völlig unbekannte Gebiet schlagartig berühmt. Bald beteiligte sich die gesamte damalige Weltelite der Bergsteiger am sportlichen Wettkampf um die erst höchsten und dann schwierigsten Dolomitengipfel: Engländer, Italiener, junge Deutsche und natürlich Österreicher, denn das gesamte Gebiet gehörte damals ja zur Donau-Monarchie. Rund um den Alpintourismus wurde es schnell ein Gebot der Stunde, das Fremdenverkehrswesen zu organisieren, die unumgängliche Voraussetzung war der Bau von Wegen und Zufahrtsstraßen: 1909 wurde die Große Dolomitenstraße vollendet, eine Meisterleistung der damaligen Straßenbaukunst. Diese Strecke, die Bozen am westlichsten Rand der Dolomiten mit Cortina d’Ampezzo im Osten verbindet und mit ihren Nebenstrecken auch die bezaubernde Sella-Ronda ermöglicht, veränderte das Leben in den Dolomitentälern innerhalb nur weniger Jahrzehnte von Grund auf.
Doch für die einheimische Bevölkerung interessierte sich damals kaum ein Gast; sicher, ihr eigentümliches Idiom klang seltsam, doch dass im habsburgischen Vielvölkerstaat eine bunte Sprachenvielfalt herrschte, war nichts Neues. Was sich da irgendwie romanisch anhörte, aber nicht Italienisch war, konnte zwar kaum jemand richtig einordnen, so richtig aufregend schien die Sache nicht zu sein. Hatte man großes Glück, traf man auf einen hochgebildeten Gadertaler, der aus Colfosco gebürtig war, in Brixen, Trient und Innsbruck studiert hatte und über die Kultur seiner Heimat hervorragend informiert war. Er veröffentlichte ab 1881 erste Studien über die Splittersprache des Ladinischen: Jan Batista Alton (1845–1900), Proverbi, tradizioni ed aneddoti delle valli ladine orientali con versione italiana, Innsbruck 1881. Alton wusste auch sonst noch so allerlei über die Sitten und Bräuche seiner Landsleute zu berichten. Überdies war er selbst ein passionierter Bergsteiger und erschloss in den 1870er Jahren mit Gleichgesinnten für den jüngst gegründeten Deutschen und Österreichischen Alpenverein die Sellagruppe, wo ihm mehrere Erstbesteigungen gelangen, darunter 1872 die Eroberung des Sas Pordoi und der Cima Pisciadù.
Wenig später kam ein weiterer Tourismus-Pionier in die Gegend, der Bozner Journalist und Schriftsteller Karl Felix Wolff (1874-1966), der für alle bedeutenden Zeitschriften der Donau-Monarchie schrieb, um ein zahlungskräftiges Publikum in das neu entdeckte Wunderland der Bleichen Berge zu locken. Im Jahr 1913 erschien das erste Bändchen seiner berühmt gewordene Sagen-Sammlung, das durchaus wohlwollend aufgenommen wurde:
Dolomitensagen. Sagen und Überlieferungen, Märchen und Erzählungen der ladinischen und deutschen Dolomitenbewohner [1913]; heute umfasst die Sammlung über 800 Seiten, ist in alle Weltsprachen übersetzt und geht in die achtzehnte Auflage. Als Dolomitensagen bezeichnete K.F. Wolff seine frei gestalteten Erzählungen, was der touristischen Entdeckung dieses Berggebietes geschuldet ist. Wolff schrieb für ein internationales Publikum, das mit dem Begriff der Dolomiten sehr viel, mit dem Hinweis auf ladinische Gegebenheiten hingegen kaum etwas anzufangen wusste. Solange das Bändchen als gut lesbares Stück Literatur gehandelt wurde, wurde es durchaus positiv rezipiert. Doch als der Autor erklärte, dass es sich bei den vom ihm niedergeschriebenen Texten im Grunde um halb vergessene Reste eine alten ladinischen Erzähltradition handle, die Alton offenkundig übersehen hatte, da reagierte die Fachwelt mit unverhohlenem Misstrauen, denn das, was in den Dolomitensagen zu Tage kam, wollte durchaus nicht ins Bild der gesamtalpinen Sagenlandschaft passen: Zu fremdartig waren die ätiologischen Motive, die eher an regelrechte Ursprungsmythen gemahnten, zu eigenwillig die ladinische Welt der Berggeister, die nur sehr entfernt an Feen und Zwerge erinnerte, dafür aber unübersehbar auf numinose Vorstellungen hinwies.
Da fand sich etwa eine Figur wie Soreghina, die lichte Tochter der Sonne, die im Hochsommer Hochzeit hält und im Herbst hinabsteigt in die Unterwelt. Oder eine Gestalt wie die Samblana, die unnahbaren Winterfürstin, die mit einem magischen blauen Spiegel den Lauf der winterlichen Sonne lenkt. Die wahre Herrin der Berge ist jedoch Tanna, die Königin der Croderes, der Steingeborenen, die vor den Menschen da waren und nach ihnen sein werden. Tannas blauer Krone gehorchen die Lawinen, die Steinschläge, das tobende Wildwasser. Ist Tanna lediglich eine sommerliche Variante der winterlichen Samblana? Oder eine lokale Version? Eines ist sicher, schlichte Sagengestalten sind das nicht. Und völlig ratlos stand man vor dem größten Geheimnis der ladinischen Überlieferung, vor dem großen Erzählkreis um das Reich der Fanes, dessen epische Gestaltung jedes Maß einer einfachen Sagenform überstieg.
Von einem sagenhaften Reich ist da die Rede, das es einst irgendwo im Gebirge zwischen der Hohen Gaisl (Crep Checio) und den Armentarola-Wiesen am Fuß des Heiligkreuzkofels (Sas dla Crusc) gegeben haben soll. Das Königshaus war reich und mächtig, und man munkelte, es gebe ein geheimnisvolles Bündnis mit den Murmeltieren. Mit unfehlbarem Zauber schirmte ihre kriegskundige Fürstin Dolasilla das Reich, doch ein dunkles Verhängnis brachte die Heldin zu Fall. Das Reich ging unter und versank im Schoß der Dolomiten, manche sagen, in den Fluten des Pragser Wildsees. Nur einmal im Jahr, in einer stillen Sommernacht, wenn der neue Sichelmond am Himmel steht, öffnet sich ein unbekanntes Tor im Seekofel, dem Sas dla Porta, und ein schwarzes Boot gleitet geräuschlos über den See. Schweigend dreht Dolasilla (nach anderer Lesart ihre Zwillingsschwester Luyanta) die Runde über den See und sieht, dass sie noch warten muss. Dann verschwindet das Boot wieder in unergründliche Tiefen. Sie wird diese Runde noch länger machen müssen als die ältesten Leute denken können, heißt es, doch die Murmeltiere hüten das Gedenken, und über die hohen Felsen gleitet der Schatten des Variul dla flüta, eines zauberischen Greifvogels mit goldenen Fängen und goldenem Schnabel, dessen feuriger Atem in den senkrechten Wandfluchten des Sas dla Crusc alljährlich eine bläuliche Flamme auflodern lässt, um die Erinnerung wach zu halten an das versunkene Reich.
Das ist nicht mehr die Dutzend-Vorstellung von der ehemals blühenden Alpe, die wegen irgendeines Frevels vermurt, vergletschert oder in einem tiefen See versenkt wurde, wie die archetypische Sage von der Blümlisalp erzählt. Und das alles sollte von einfachen Hirten und Bauern über Jahrhunderte in mündlicher Form weitergegeben worden sein, ohne Schriftkultur, mitten im Herzen Europas? An der Schnittstelle zwischen zwei der ganz großen Kulturnationen, auf denen das moderne Europa ruht? Undenkbar, urteilte die Fachwelt.
Dazu kam, dass J. B. Alton, immerhin gebürtiger Gadertaler, diese Überlieferungen offenkundig nicht gekannt hat, als er sein Bändchen mit ladinischen Sagen und Märchen zusammenstellte. Ja er hatte in seiner knappen Einleitung sogar erläutert, die ladinische Kultur sei assai mediocre, recht armselig, denn das meiste Erzählgut sei aus Deutsch-Tirol importiert. Heute wissen wir, dass Alton sich gewaltig geirrt hat, und dass es in Ladinien, neben den Dutzendsagen, wie sie im gesamten Alpenbogen verbreitet sind, einen einzigartigen Überlieferungsfundus gegeben haben muss, der als identitätsstiftende Metapher die Gemeinschaften in den abgelegenen Gebieten durch sehr lange Zeiträume getragen hat.
Mo les stories de Fanis, köres è trop plü vödles … (Aber die Geschichten von Fanis, die sind viel älter), soll K.F. Wolff von einem alten Ladiner gehört haben, als er wieder einmal unter den Leuten nachfragte, was sie denn noch von den alten Sagen und Märchen wüssten. Meist erfuhr er nichts Aufregendes. Man erzählte sich im ladinischen Lebensraum eine Menge Geschichten, die, wie überall in Europa, in unser Wissen vom Weltbild passten, das einst im Alpengebiet vorherrschend gewesen sein muss. Ladiniens Sagen von Hexenspuk und allerlei zwielichtigen Geistern in Wald und Feld unterscheiden sich in nichts von der Tradition in den angrenzenden deutsch- und italienischsprachigen Tälern, das hatten schon Alton ganz richtig gesehen.
Daneben aber erzählte man sich offenkundig Geschichten, die außerhalb des ladinischen Überlieferungsraumes völlig unbekannt waren und mit den üblichen Erzählstoffen der alpinen Milieudominanz kaum etwas gemein hatten. Der Sammler Wolff wunderte sich darüber und ging der Sache nach. Dabei stieß er unzweifelhaft auf Spuren einer mündlichen Erzählkultur, die bis zur Schwelle des 20. Jahrhunderts in den weltabgeschiedenen Tälern der Dolomiten gepflegt wurde, wie Wolff selbst, durchaus glaubwürdig, in seinen frühen Schriften beschreibt, und wie es von weiteren Zeugnissen einwandfrei bestätigt wird.
Dann brach 1914 der Erste Weltkrieg aus, 1915 entzündete sich die Hölle der Dolomitenfront – in der Apokalypse der gran vera, des Großen Krieges, verglühte das habsburgische Kaiserreich Österreich-Ungarn, Südtirol fiel 1919 samt dem kriegsverwüsteten ladinischen Dolomitengebiet an Italien, die Welt war eine andere.
Was Karl Felix Wolff vor und kurz nach dem Weltkrieg noch erfahren konnte, war gerettet – nach den 1920er Jahren finden sich in Wolffs Notizheften kaum noch Einträge zu neu erfahrenen Motiven, sondern nur noch Kontrollfragen und immer häufiger die Anmerkung: ... weiß gar nichts mehr.
Die Überlieferungen dürften wahrscheinlich schon vor dem Weltkrieg nur wenigen Gewährsleuten wirklich vertraut gewesen sein, die sie auch vorzutragen wussten. Die Gemeinschaft hörte wohl gerne zu und kannte die Geschichten in groben Zügen, doch nach dem Schock der grauenhaften Kriegsjahre hatte die Bevölkerung anderes zu tun als sich um alte Überlieferungen zu kümmern: Die Moderne war angebrochen, die Entwicklung des Tourismus zeichnete sich ab …
Wolff fand nur noch einen Steinbruch vor, ein Trümmerfeld aus Erzählbrocken, Bildvisionen und vagen Erinnerungen, dass diese Geschichten älter waren. Die Dolomitensagen sind nicht älter, sie sind anders, denn sie erzählen die ladinische Variante vom uralten Wissen um Zeit und Geschichte: Da geht es um die Verbildlichung von chronos und kairos, also um die Vorstellung der rechten Zeit, des schicksalhaften Gleichgewichtes zwischen Zufall und Notwendigkeit, um die ehernen Gesetze von Anfang, Aufstieg, Blütezeit, Verfall und Untergang.
Wolff hat diese Sagen nicht erfunden, er hat sie – teils stark entstellt und halb vergessen – gefunden, und dass er dabei manchmal um-erfunden hat, das sei ihm längst verziehen. Er hat uns allen einen kostbaren Schatz alten Erzählgutes bewahrt, dessen ikonische Mythopoiesis den Vergleich mit dem Überlieferungsfundus der Hochkulturen Europas nicht zu scheuen braucht. Die Sagen vom Reich der Fanes wirken fort und fort wie alle großen Stoffe der Weltliteratur, in der Gestaltungskraft der Dichtung, im Werk schriftstellerischer Neuschöpfung ebenso wie in den zeichnerischen Visionen von Graphik, Malerei und Bildhauerei.
Ulrike Kindl ist Germanistin und Kulturhistorikerin, und war langjährig Dozentin an der Universität Ca’ Foscari in Venedig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die volkskundlichen Erzählforschung, Märchen- und Sagenkunde des alpinen Raums sowie der Berührungspunkte zwischen Volks- und Kunstmärchen. Von ihr sind zahlreiche Publikationen zu Literaturgeschichte, Bildwissenschaft, Begriffs- und Erzählforschung sowie Regionalgeschichte erschienen. Außerdem ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ladinischen Kulturinstitute Micurà de Rü in Südtirol sowie Majon di Fascegn im Trentino sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirat des wissenschaftlichen Jahrbuchs Ladinia – Sföi culturâl dai ladins dles Dolomites.